Mittwoch, 23. Januar 2008

Die spiegel Neuronen

"Schöner, goldner Nachmittag,
Wo Flut und Himmel lacht!
Von schwacher Kindeshand bewegt,
Die Ruder plätschern sacht -;
Das Steuer hält ein Kindesarm
Und lenket unsre Fahrt."
Die Katze grinste nur, als sie Alice sah. »Sie sieht gutmüthig aus,« dachte diese; aber doch hatte sie sehr lange Krallen und [59] eine Menge Zähne. Alice fühlte wohl, daß sie sie rücksichtsvoll behandeln müsse.
»Grinse-Miez,« fing sie etwas ängstlich an, da sie nicht wußte, ob ihr der Name gefallen würde: jedoch grinste sie noch etwas breiter. »Schön, so weit gefällt es ihr,« dachte Alice und sprach weiter: »willst du mir wohl sagen, wenn ich bitten darf, welchen Weg ich hier nehmen muß?«
»Das hängt zum guten Theil davon ab, wohin du gehen willst,« sagte die Katze.
»Es kommt mir nicht darauf an, wohin –« sagte Alice.
»Dann kommt es auch nicht darauf an, welchen Weg du nimmst,« sagte die Katze.
»– wenn ich nur irgendwo hinkomme,« fügte Alice als Erklärung hinzu.
»O, das wirst du ganz gewiß,« sagte die Katze, »wenn du nur lange genug gehest.«
Alice sah, daß sie nichts dagegen einwenden konnte; sie versuchte daher eine andere Frage. »Was für eine Art Leute wohnen hier in der Nähe?!«
»In der Richtung,« sagte die Katze, die rechte Pfote schwenkend, »wohnt ein Hutmacher, und in jener Richtung,« die andere Pfote schwenkend, »wohnt ein Faselhase. Besuche welchen du willst: sie sind beide toll.«
»Aber ich mag nicht zu tollen Leuten gehen,« bemerkte Alice.
»Oh, das kannst du nicht ändern,« sagte die Katze: »wir sind alle toll hier. Ich bin toll. Du bist toll.«
»Woher weißt du, daß ich toll bin?« fragte Alice.
»Du mußt es sein,« sagte die Katze, »sonst wärest du nicht hergekommen.«
Lewis Carroll. "Alice's Abenteuer im Wunderland"

Die spiegel Neuronen Geschichte begann 1991 in Parma in einem Laboratorium des Physiologischen Instituts der Universität. Ihr Held ist eigentlich ein Makake, in dessen Hirn man in einer schmerzlosen Prozedur Elektroden eingepflanzt hatte, mit denen man aus einzelnen Nervenzellen Signale ableiten kann.



Vittorio Gallese war gerade dabei, einen weiteren aus einer Serie von Versuchen auszuführen, mit denen man herausfinden wollte, welche Funktion ganz bestimmte Nervenzellen haben, die das Team um Prof. Giacomo Rizzolatti ein paar Jahre vorher identifiziert hatte. Sie hatten diese Zellen in der prämotorischen Grosshirnrinde entdeckt, wo Bewegungen geplant und gesteuert werden.
Spiegelneurone sind Nervenzellen, die im Gehirn während der Betrachtung eines Vorgangs die gleichen Potenziale auslösen, wie sie entstünden, wenn dieser Vorgang nicht bloss (passiv) betrachtet, sondern (aktiv) gestaltet würde.

Das mitfühlende Gehirn

Die Betrachtung waghalsiger Verhaltensweisen lässt uns erschaudern. Hirnforscher versuchen, das Phänomen zu ergründen

Von Bettina Gartner

Romantik auf der Leinwand: Leonardo DiCaprio und Kate Winslet stehen mit ausgestreckten Armen am Bug der Titanic, der Fahrtwind bläst ihnen ins Gesicht. Der Zuschauer meint, die frische Meeresbrise zu spüren. Das Gefühl von Freiheit schwappt vom Atlantik ins Kino. Minuten später hat sich der englische Luxusliner in einen Ort des Schreckens verwandelt. Wenn die Passagiere verzweifelt versuchen, sich vom sinkenden Schiff zu retten, rast auch das Herz des Zuschauers, sein Atem stockt, die Muskeln sind angespannt und zur Flucht bereit.
Die Ursache für das Wechselbad der Gefühle liegt im Gehirn.

Dort gaukeln uns spezielle Zellen – so genannte Spiegelneuronen – vor, die Szenen auf der Leinwand tatsächlich zu erleben. Sie reagieren beim Beobachten von Verhaltensweisen ebenso, als würde man diese selbst ausführen. Spiegelneuronen werden nicht nur aktiv, wenn wir selbst jemand in den Arm nehmen, sondern auch, wenn wir dies nur sehen.
Früher glaubte man, Spiegelneuronen würden nur auf Bewegungen ansprechen. Nun konnte der Biopsychologe Christian Keysers vom Neuro-Imaging Center im niederländischen Groningen nachweisen, dass die Nachahmerzellen auch dann feuern, wenn Berührungen oder Emotionen wie Ekel betrachtet werden. Wer beim Anblick der Vogelspinne auf James Bonds Brust eine Gänsehaut bekommt und angewidert erstarrt, in dessen Hirn führen die Spiegelneuronen Regie. Der Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist nur eine Frage der Quantität. Während beim Fühlen einer echten Spinne Tausende von Haut-Sinneszellen aktiviert werden, feuern beim Zusehen nur wenige Spiegelneuronen.
Entdeckt wurden die Gehirnzellen mit dem Drang zur Imitation 1991 in einem Versuchslabor im italienischen Parma. Eigentlich wollte der Neurologe Vittorio Gallese damals nur testen, wie das Gehirn eines Affen arbeitet, wenn das Tier nach einer Erdnuss greift. Mit Elektroden zapfte er einzelne Hirnzellen an und untersuchte ihre Reaktion. Zu Galleses Überraschung feuerten bestimmte Neuronen im Affenhirn nicht nur dann, wenn der Makake zugriff – sondern auch, als der Forscher die Hand nach der Erdnuss ausstreckte.
Bis dato hatten die Wissenschaftler an eine strikte Arbeitsteilung der grauen Zellen geglaubt: Bestimmte Bereiche im Gehirn seien nur für das Sehen zuständig, andere steuerten ausschließlich das Muskelspiel, so die allgemeine Auffassung. Doch seit Galleses Entdeckung wird der Organisationsplan des Gehirns umgeschrieben.
Wo genau und in welchen Bereichen des Gehirns die Multitalente zu finden sind, ist noch immer unklar. Doch mit dem Fortschritt der bildgebenden Verfahren nimmt die neuronale Landkarte mehr und mehr Gestalt an. Noch vor wenigen Jahren mussten die Forscher mit ihren Elektroden jede Hirnzelle einzeln untersuchen, um in einem Zellhaufen ein Spiegelneuron aufzuspüren. Das dauerte oft tagelang. Heute liefern Kernspintomografen, die die Aktivität ganzer Hirnareale abbilden, in Minutenschnelle Hinweise auf ihren Aufenthaltsort. So weiß man mittlerweile: Spiegelneuronen sitzen sowohl im Prämotorischen Kortex, der für Bewegungen zuständig ist, als auch im Insularen Kortex, wo Gefühle wie Ekel verarbeitet werden, und im Sekundären Somatosensorischen Kortex, der Berührungen registriert. Wahrscheinlich sind Spiegelneuronen auch in anderen Hirnregionen zu finden, glaubt Christian Keysers. Das hieße: Spiegelzellen sind in der Lage, die ganze Palette menschlicher Gefühle zu imitieren: Freude und Trauer, Furcht und Angst. „Tatsache ist: Wir haben ein ziemlich soziales Gehirn“, sagt Keysers.
Und doch gibt es Menschen, die auch das grausamste Gemetzel kalt lässt. Während der ganze Kinosaal angesichts verstümmelter Leichenteile entsetzt aufschreit, lümmeln sie sich teilnahmslos im Sessel. Wie ist das zu erklären? Vielleicht, so vermuten die Forscher, sind bei diesen Menschen die Spiegelneuronen kaum aktiv. Oder sie liegen womöglich völlig lahm. Das sind bislang allerdings nicht mehr als Spekulationen.
Normalerweise machen sich die Imitationskünstler bereits im Gehirn von Säuglingen ans Werk. Sie feuern beim Anblick von Gesten und Gesichtsausdrücken – auch wenn die Kinder selbst noch gar nicht in der Lage sind, diese auszuführen. Das Aktivitätsmuster der Spiegelneuronen kann dabei gespeichert und bei Bedarf abgerufen werden. Das könnte erklären, warum mancher Dreikäsehoch, der zum ersten Mal aufs Fahrrad steigt, gleich gekonnt in die Pedale tritt.
Die mentale Simulation hat aber auch einen lebenslangen Nutzen: Sie hilft, das Ziel einer Handlung zu erkennen, noch bevor diese vollständig ausgeführt wurde. Das Aktivitätsmuster der Spiegelneuronen verrät, ob ein Gegenüber die Hand zum Gruß ausstrecken will – oder zum Faustschlag ausholt.
Doch warum sind wir – bei so viel neuronaler Spiegelung – nicht ein Haufen hemmungsloser Marionetten? Wenn der Jogger vor uns strauchelt, stolpern wir nicht etwa selbst, sondern erleben den Sturz allenfalls mental mit. Offenbar gibt es im Gehirn eine Art neuronaler Schranke, die verhindert, dass die Signale der Spiegelzellen immer an Muskeln oder Organe weitergeleitet werden. Wie der Sperrmechanismus genau funktioniert, ist unklar. Beobachtungen haben jedoch gezeigt, dass er bei großer Aufregung und starken Emotionen durchbrochen werden kann. Der zuckende Fuß des Zuschauers, wenn ein Fußballspieler zum Elfmeter ansetzt, ist nur ein Beispiel dafür.
Auch bei manchen Personen mit Hirnverletzungen scheint die Signalbremse im Gehirn lahm gelegt zu sein. Dann dirigieren Spiegelneuronen ungehemmt das Geschehen. Patienten, die unter Echopraxie leiden, nehmen, ohne es zu wollen, ihre Brille ab, binden sich die Schuhe oder kratzen sich die Nase – nur weil sie es bei anderen beobachten. Das Leben unter der Regie der Spiegelneuronen wird zur zwanghaften Qual.
Erste Hinweise auf einen therapeutischen Einfluss der imitationsfreudigen Zellen gibt es dagegen an der Medizinischen Universität Lübeck. Dort arbeitet der Neurologe Ferdinand Binkofski mit einer Gruppe von Schlaganfall-Patienten, die selbst nach monatelanger Physiotherapie nur mühsam ihren Arm bewegen konnten. Durch die gezielte Aktivierung von Spiegelzellen will Binkofski ihnen helfen, ihre Fingerfertigkeit wiederzuerlangen. Eine Stunde täglich sehen die fünf Patienten in Videofilmen, wie Menschen ihren Arm bewegen, die Hand ballen oder die Finger spreizen. Dadurch scheinen die angeregten Spiegelneuronen neue Nervenverbindungen im Gehirn zu aktivieren und funktionsfähige Areale trotz Zwangspause fit zu halten. Der Mix aus Bilder-Kur und gezielten Übungen scheint zu wirken: Während die Physiotherapeuten die Hoffnung auf Verbesserungen aufgegeben hatten, griffen Binkofskis Patienten bereits nach zwei Monaten wieder sicher zu Stift und Tasse.
(c) DIE ZEIT 22.04.2004 Nr.18